Am 30. März wäre Christian siebenundsechzig Jahre alt geworden. Er hätte sich sicher über das Erinnerungsbuch „Nur einmal die Sonne berühren“ seiner Schwester Kathrin Reinemann gefreut, das im letzten Herbst erschien. Darin finden sich auch einige Anekdoten aus der gemeinsamen Kindheit (als er schlicht „Hans“ hieß). Diese Passagen seien im Folgenden wiedergegeben (s.a. VITA).
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Der Osterspaziergang – oder: Wie der spätere Mathematiker dem Osterhasen auf die Schliche kommt
Meine Eltern, mein Bruder und ich befanden uns auf unserem Osterspaziergang. Der Frühling hatte endlich den Winter vertrieben.
Du musst nämlich wissen, am Rande des Harzes dauert der Winter ewig lang.
„Schaut mal, hier hat der Osterhase für euch ein buntes Osterei versteckt!“, rief Vati uns zu.
Richtig, nun sah ich es auch, flink hob ich es auf und gab es Mama. Hans fand das nächte Osterei und so ging es immer fort Auch fanden wir allerlei Süßigkeiten. Wir gaben unsere gefundenen Schätze immer der Mama, denn Vati sammelte fleißig mit uns. Die Vögel begleiteten uns zwitschernd auf unserer Wanderung. Nach einiger Zeit legten wir eine Pause ein, und setzten uns auf einen abgesägten Holzstamm.
„Mama zeig mal, wie viel haben wir denn schon gesammelt?“, fragte ich aufgeregt. Mama zeigte uns ein kleines Körbchen, das bis zum Rand mit Ostereiern und Süßigkeiten gefüllt war. Es war kurz nach dem Krieg und da gab es noch nicht so viel zum Schnuppen. Wir bekamen jeden Abend nur ein Stück Schokolade, das wir ganz langsam im Mund zergehen ließen.
Hans schaute sich das kleine Körbchen genau an, dann zählte er die Ostereier, die darin lagen. Dazu nahm er seine Finger zur Hilfe. Obwohl er erst viereinhalb Jahre alt war, konnte er schon bis zehn zählen. Weiter kam ich mit sechs Jahren auch nicht.
„Was zählst du denn?“, wollte Mama wissen.
„Ich zähle die Ostereier, aber da fehlen welche, wir haben viel mehr gefunden!“, meinte er und sah Mama fragend an.
Mir war das gar nicht aufgefallen, denn das Körbchen war ja bis obenhin voll. Nun ja, Vati war einige Male vorgelaufen und hatte die Eier immer wieder neu versteckt.
Da konnte jeder schon sehen, dass Hans mal einmal ein guter Mathematiker werden würde.
Vati erklärte uns darauf, dass der Osterhase auch den anderen Kindern etwas bringen müsste, sonst würde ihnen das Herz verbluten. Mit diesem Argument waren wir natürlich voll und ganz einverstanden. Wir wollten doch nicht, dass den anderen Kindern das Herz verblutet?
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Nur einmal die Sonne berühren
Eines Abends hörte ich wie meine Eltern sich wieder einmal laut stritten. Ich huschte aus dem Bett und öffnete ganz leise die Tür. Ich sah wie Vati seinen großen Hut aufsetzte und fort ging. Mama fing leise an zu weinen. Ich lief schnell zu ihr hin. Wir schauten ihm so lange nach, bis die Dunkelheit ihn vollkommen verschluckte. Mir tat das Herz sehr weh, so einen Schmerz kannte ich noch nicht. Nachts hörte ich Mama wieder weinen, doch ich konnte sie nicht trösten. Ich dachte, vielleicht war ja ich Schuld, dass er uns verlassen hat, vielleicht, weil ich wieder einmal böse war, oder weil ich Hans geärgert hatte. Zu Hans sagte Mama am nächsten Tag: „Dein Vater muss für uns Geld verdienen, damit wir genug zum Essen haben, später kommt er wieder zu uns zurück“ Damit gab er sich zufrieden, denn Hunger hatte er ja immer.
Nun lebten wir schon einige Wochen ohne unseren Vater, und wir vermissten ihn so sehr.
Die Uhren wurden nach dem Krieg zur Sommerzeit zwei Stunden vorgestellt. Deshalb durften Hans und ich auch länger als sonst aufbleiben.
Wir ließen im Bach vor unserem Haus Schiffchen fahren, die wir aus Papier gebastelt hatten.
Es war ein sehr heißer Tag gewesen, und so fühlten wir uns im Wasser so richtig wohl. Immerhin reichte es mir bis zu den Knien. Die Sonne stand blutrot am Himmel. Ich sah ganz verzaubert zu ihr hinauf. Aufgeregt sagte ich zu meinem Bruder: „Hans sieh mal, wie groß und rot die Sonne ist! Sie ist so nah an den Berg heran gewandert. Komm, wir gehen da mal hin!“
Hans schaute zum Himmel empor, schüttelte den Kopf und sagte: „Kathrin, das geht nicht, die Sonne ist ganz heiß, das hat der Vati mir einmal erzählt.“
„Ich möchte die Sonne doch nur einmal berühren, nur ganz, ganz kurz, dann tut es auch nicht weh“, sagte ich und schaute sehnsuchtsvoll zum feuerroten Ball hinauf.
Hans vertraute mir blind, immerhin war ich ja seine große Schwester. Wir nahmen unsere Schiffe aus dem Wasser, zogen unsere Sandalen an und marschierten los.
Wir wanderten den Berg hinauf. Die Sonne wurde immer größer und größer.
„Vielleicht ist hinter der Sonne unser Vati“, fantasierte ich.
„Das glaube ich nicht, er kann doch nicht fliegen!“
„Vielleicht kann er ja zaubern. Mama weiß nämlich auch nicht, wo er nun ist“.
Nach einer Weile versank die Sonne langsam hinter dem Berg. Wir blieben wie angewurzelt stehen und beobachteten staunend den Sonnenuntergang. Nachdem sie vollkommen hinter dem Berg versunken war, fragte Hans mich: „Wo ist die Sonne denn nun hin?“
„Die Sonne ist ins Bett gegangen, und da geht ihr nun auch hin“, sagte Mama hinter uns. Sie hatte uns schon fieberhaft gesucht, und war heil froh, dass sie ihre beiden Ausreißer endlich gefunden hatte.
Doch für uns Kinder blieb nur die eine Frage, nämlich, wo ist unser Vati?
Eines Tages kam Hans vom Spielen nach Hause und sagte erbost zu Mama. „Du hast uns ja belogen, der Vati kommt nie mehr wieder, denn ihr seid ja verschieden!“
Er hatte von den anderen Kindern die traurige Nachricht erzählt bekommen.
„Ja, es stimmt, Papa und Mama sind zu verschieden, darum um haben wir uns getrennt, wir kommen auch ohne ihn aus“
*
Der erste Blick ins Jenseits
Mama war schon 84 Jahre alt, als sie sehr krank wurde. Die Stationsschwester rief mich eines Morgens an, und teilte mir mit, dass es mit ihr zu Ende ging. Schnell eilte ich zu ihr.
Obwohl ich die Tür leise öffnete, bemerkte sie mich sofort. Sie wirkte müde, doch ihre Augen leuchteten, als sie mich sah.
„Hallo, Kathrin, du kommst ja heute schon so früh!“
Ich gab ihr einen Begrüßungskuss, und antwortete, dass die Schwester mich anrief und mir mitteilte, dass es ihr heute nicht so gut gehen würde.
„Ja, das war vorhin, aber seit der Infusion geht es mir schon besser. “ […]
„Mama, was hältst du davon, wenn ich Hans anrufe? Er könnte schon nachmittags hier sein?“
Sie setzte sich langsam im Bett auf und erwiderte: „Oh ja, an besonderen Tagen, sei es der Muttertag, oder an meinem Geburtstagen seid ihr immer bei mir gewesen. Ich habe ihn so lange nicht gesehen. Hoffentlich kann er sich freimachen, er hat ja immer alle Hände voll zu tun.“
Ich rief meinen Bruder an. Da er Selbstständig war, konnte er sich sofort auf den Weg machen. […]
„Ist Hans noch nicht da“, fragte Mama, sie hatte einige Stunden fest geschlafen.
Im gleichen Moment klopfte es an der Tür und Hans trat ein. Er ging zum Bett, nahm Mama in den Arm und fragte, wie es ihr ginge.
„Mir geht es gut, da nun meine Kinder bei mir sind, fehlt mir nichts mehr. Ach ja, eine Zigarette, nur ein paar Züge, wären nicht schlecht“, sie lächelte uns spitzbübisch zu. Hans machte eine Zigarette an, und ich stand vor der Tür Schmiere, denn dafür hätte niemand Verständnis gehabt.
„Wie ist es mit deiner Arbeit? Du musst auf all deine Erfindungen sofort ein Patent anmelden! Sei nicht immer so gutgläubig!“, ermahnte sie Hans. Sie war sehr stolz auf ihn, er war als Ingenieur sehr erfolgreich und hatte schon einige Erfindungen gemacht. Auch waren mehrere Fachbücher von ihm veröffentlicht worden. Ja, mein kleiner Bruder war ein ganz großer geworden, dachte ich stolz. Obwohl Mama ihn über alles liebte, bin ich auf ihn nie eifersüchtig gewesen.
,,Mama, mach dir keine Sorgen, ich werde all deine guten Ratschläge befolgen, das verspreche ich dir!“
Mama sah uns beide an. Hans saß rechts am Bett, und ich saß auf der linken Seite. Nach einiger Zeit sagte sie mit ihrer dunklen, warmen Stimme: ,,Euer Vater war ein feiner Mensch!“
Ich konnte darauf gar nicht reagieren, denn so etwas hatte sie noch nie gesagt. Ich freute mich für sie, dass sie ihm endlich verziehen hatte, und nun ihren Frieden finden würde.
Ich sah meinen Bruder an, er nahm ihre Hand und drückte sie liebevoll. Da nahm auch ich ihre andere Hand. Ohne Worte waren wir drei uns, für eine kleine Ewigkeit, ganz nah. Plötzlich schaute sie zur Decke und sagte ungewöhnlich hingebungsvoll zu irgendjemanden: „Ja, ja, ich komme“
Hans und ich saßen noch eine Weile bei unserer Mutter. Wir waren uns sicher, dass unser Vater sie abgeholt hatte, und das sie auch gerne mit ihm gegangen war.
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